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Kategorie: 7. Klasse AHS (Ö)
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Während der zwei Jahre im Versteck bekommt der Glaube für Anne allmählich eine existentielle Bedeutung. Es lassen sich verschiedene Phasen ausmachen:

1.   Die Phase der Auseinandersetzung und Abgrenzung

2.   Die Phase des individuell-existentiellen Glaubens

3.   Phase des Glaubens, der Verbindung schafft

 1.   Phase der Auseinandersetzung und Abgrenzung

 Im Oktober 1942 und im April 1943 äußert sich Anne als Dreizehnjährige zum Thema Gebet. Geht es im Oktober um das Gebetbuch ihrer Mutter, das diese ihr gegeben hat, so schreibt Anne im April von ihrer Zurückweisung gegenüber der Mutter, als diese abends mit ihr beten möchte. In beiden Fällen ist die Abwehr gegen Religiöses verknüpft mit der Abgrenzung gegen die Mutter, von der Anne sich häufiger verletzt fühlt und sehr stark distanziert.

Interessant sind ihre Gedanken zu dem Gebetbuch. Sie schreibt, dass sie anstandshalber ein paar Gebete gelesen habe. Sie findet die Gebete “schon schön”, aber sie sagen ihr nicht viel, d. h. diese Gebete lösen wenig wirkliches Interesse bei Anne aus. Sehr stark ist auch ihre Abwehr gegen den Zwang, sich von außen etwas aufdrücken zu lassen. Sie will nicht gezwungen werden, “fromm-religiös zu tun”. (Tagebuch S. 70)

Mit dieser Abgrenzung macht sie deutlich, dass sie nicht bereit ist, von außen zu übernehmen, was nicht ihrem eigenen Denken und Fühlen entspricht.

 2.   Die Phase des individuell-existentiellen Glaubens

 Ich möchte diese Phase weiter unterteilen in:

 2.1.   Phase des existentiellen Fragens

2.2.   Die Phase des Glaubens, der Weite schafft

 2.1.   Phase des existentiellen Fragens

 Immer wieder wird Anne von Ängsten geplagt, Ängste vor dem Entdecktwerden und vor der Bedrohung durch Bomben, aber auch diffuse, existentielle Ängste machen ihr zu schaffen. In dieser Situation des Ausgeliefertseins bezieht sich Anne das erste Mal in ihrem Tagebuch auf Gott als Gegenüber.

Ende November 1943 (Anne ist 14 Jahre und 5 Monate alt) konzentrieren sich Annes Ängste und Phantasien auf ihre Freundin Hanneli. Sie hat Bilder von der Freundin vor Augen, von der sie weiß, dass sie im KZ ist.

Anne hat Schuldgefühle gegenüber Hanneli, von der sie meint, sie ungerecht behandelt zu haben. Ihre Gefühle spiegeln sich in einem inneren Dialog, den sie in ihrem Tagebuch wiedergibt. Anne fühlt sich hilflos. “Ich kann nur zuschauen, wie andere Menschen leiden und sterben.” (S. 150) Sie klagt sich selber an: “Oh, Anne, warum hast Du mich verlassen,” aber sie wendet sich auch an Gott. Sie fragt und klagt und betet: “Warum musste sie womöglich sterben?”, malt sich aus, was sie wieder gutmachen kann nach dem Ende des Krieges. Schließlich betet sie für Hanneli zu Gott. “Lieber Gott, hilf ihr, dass sie wenigstens nicht allein ist. Wenn Du ihr nur sagen könntest, dass ich mit Liebe und Mitleid an sie denke...” Und sie fragt sich, ob Hanneli den Glauben in sich selbst hat, nicht von außen aufgedrängt, wogegen Anne selbst sich ja gewehrt hatte. Sie weiß also mit ihren 14 Jahren, dass der Glaube nur trägt, wenn er wirklich zu einem gehört.

Sie gesteht sich ein, nicht mehr helfen zu können, aber sie will “sie (Hanneli) niemals vergessen und immer für sie beten.”

Diese Tagebucheintragung ist für das Verstehen von Annes Religiosität zentral: Sie wendet sich mit ihrer verzweifelten Klage an Gott, bittet da, wo sie nicht helfen kann, Gott selbst um Hilfe auch für die Freundin, und findet für sich im Beten eine Möglichkeit des Umgangs mit ihrer Verzweiflung.

 2.2 Die Phase des Glaubens, der Weite schafft

 Die eingesperrte Anne findet Trost in der Natur, in diesem winzigen Ausschnitt Himmel, den sie durch ein Dachbodenfenster sehen kann. Sie schreibt im Februar 44 (14 Jahre, 8 Monate alt): “Solange es das noch gibt, ... und ich es erleben darf, diesen Sonnenschein, diesen Himmel, an dem keine Wolke ist, so lange kann ich nicht traurig sein”. Was sie selber als tröstlich erlebt hat, verallgemeinert sie: “Für jeden, der Angst hat, einsam oder unglücklich ist, ist es bestimmt das beste Mittel, hinauszugehen, irgendwohin, wo er ganz allein ist, allein mit dem Himmel, der Natur und Gott. Dann erst, nur dann, fühlt man, dass alles so ist, wie es sein soll, und dass Gott die Menschen in der einfachen und schönen Natur glücklich sehen will.” (Tagebuch S. 192). Besonders Peter van Pels (der sich mit seinen Eltern ebenfalls im Hinterhaus versteckt hält), in den Anne verliebt ist, möchte Anne etwas von ihren Trosterfahrungen vermitteln. So schreibt sie darüber ein Post Script in ihrem Tagebuch an Peter (Tagebuch S. 193), und es ist anzunehmen, dass ihre Gedanken über die Natur und Gott auch in die Gespräche zwischen ihr und Peter mit eingeflossen sind.

Gestärkt durch ihren Glauben, kann Anne Zukunftspläne entwerfen: “ich muss neben Mann und Kindern etwas haben, dem ich mich ganz widmen kann”, schreibt sie im April 44. Und sie weiß dabei um ihre guten, kreativen Fähigkeiten, bringt sie in Verbindung zu Gott und entwirft mit diesem Bewusstsein eine Lebensperspektive. Sie schreibt: “ich bin Gott so dankbar, dass er mir bei meiner Geburt schon Möglichkeiten mit gegeben hat, mich zu entwickeln und zu schreiben, also alles auszudrücken, was in mir ist (...). Das ist die große Frage, werde ich jemals etwas Großes schreiben können, werde ich jemals Journalistin...” (Tagebuch S. 238f)

Schreiben macht für Anne Sinn, hat für sie eine positive Funktion, indem es ihr hilft, ihr Leben zu bewältigen. Anne ist sich ihrer kreativen Fähigkeiten bewusst, versteht sie als Gabe Gottes und entwirft mit diesem Selbst-Bewußtsein eine Lebensperspektive.[i]

 Fazit: Annes Glaubenserfahrungen weiten ihren Blick für die Natur, für andere Menschen und für eine eigene Perspektive.

 3. Phase des Glaubens, der Verbindung schafft

 Anne fängt an, in größeren Zusammenhängen zu denken und zu schreiben.

Die Erfahrungen des Glaubens und Annes Schicksal als Jüdin veranlassen sie zu theologischen Gedanken.

Anne schreibt am 11. April 44 (14 Jahre, 10 Monate) ausführlicher über die Juden und an die Juden:

”Wir Juden dürfen nicht unseren Gefühlen folgen, müssen mutig und stark sein (...) einmal werden wir wieder Menschen und nicht nur Juden sein.” Hier wird deutlich, dass Anne sich aufgrund des gemeinsamen Schicksals der Ethnie der Juden zugehörig fühlt. Empfindet sie es als Reduktion “nur Jüdin” zu sein, widerspricht es der Liberalität, mit der sie aufgewachsen ist? “Wer hat uns das auferlegt? Wer hat uns Juden zu einer Ausnahme unter allen Völkern gemacht? Wer hat uns bis jetzt so leiden lassen? Es ist Gott, der uns so gemacht hat, aber es wird auch Gott sein, der uns aufrichtet (...) Wer weiß, vielleicht wird es noch unser Glaube sein, der die Welt und damit alle Völker das Gute lehrt, und dafür, dafür allein müssen wir auch leiden (...)

Seid mutig! Wir wollen uns unserer Aufgabe bewusst bleiben und nicht murren, es wird einen Ausweg geben. Gott hat unser Volk nie im Stich gelassen, durch alle Jahrhunderte hindurch mussten Juden leiden...” (Tagebuch S. 249)

Anne reflektiert hier allgemein über die Juden, sie verbindet ihren individuellen Glauben mit der geschichtlichen Situation des Volkes der Juden, versucht der speziellen geschichtlichen Situation einen Sinn zu geben, bringt die aktuelle Situation der Juden in Verbindung mit der Geschichte der Juden und mit dem Erwählungsgedanken. Das Leiden versteht Anne als Auftrag Gottes, d. h. es gibt einen von Gott gegebenen Sinn.[ii]

Wichtig ist anzumerken, dass Anne das Ausmaß des Leidens des jüdischen Volkes nicht hat einschätzen können. Anne fragt, aber sie probiert auch allgemeingültige Antworten, die dem Volk einen Glauben an ihr besonderes Verhältnis zu Gott vermitteln sollen, es stärken sollen.

Anne macht sich Gedanken darüber, wie das Leid des jüdischen Volkes mit ihrem Glauben an Gott zu vereinbaren ist. Sie reflektiert auch über die Funktion von Religion allgemein.

Im Juli 44, also mit 15 Jahren schreibt sie:

”Menschen, die eine Religion haben, dürfen froh sein, denn es ist nicht jedem gegeben, an überirdische Dinge zu glauben. Es ist nicht mal nötig, Angst zu haben vor Strafen nach dem Tod. Das Fegefeuer, die Hölle und der Himmel sind Dinge, die viele nicht akzeptieren können. Trotzdem hält sie irgendeine Religion, egal welche, auf dem richtigen Weg. Es ist keine Angst vor Gott, sondern das Hochhalten der eigenen Ehre und des Gewissens.” (Tagebuch S. 303). Von Peter schreibt sie zur gleichen Zeit:

“er hat keine Religion, spricht spottend über Jesus Christus, flucht mit dem Namen Gottes. Obwohl ich auch nicht orthodox bin, tut es mir doch jedes Mal weh, wenn ich merke, wie verlassen, wie geringschätzig, wie arm er ist.” (Tagebuch S. 303)

Für Anne hat Religiosität im Leben zentrale Bedeutung gewonnen, weil sie das Leben reich macht und Orientierungshilfen bietet, es geht ihr dabei nicht um eine bestimmte Religion.

Fazit: Anne macht eine für die Zeitspanne von zwei Jahren erstaunliche religiöse Entwicklung durch:

Von der Distanz und Abgrenzung von traditionellen Formen religiöser Inhalte über eigenes existentielles Fragen nach Gott kommt sie zu ganz allgemeinen Betrachtungen über die Gottesfrage angesichts des Leidens der Juden und schließlich über Religion als Lebenshilfe.

 [i] Jopie van der Waal, eine Freundin von Anne, sagt 1958 über Anne: Sie wusste, wer sie war, Schnabel S. 37

 

[ii] Hierzu gibt es Texte mit anderen Deutungen:

z. B. E. Hillesum: Das denkende Herz. Hamburg 1985. Sie schreibt in ihrem Tagebuch am 11. Juli 42: “...dies eine wird mir immer deutlicher: dass du (Gott) uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen... Ich fordere keine Rechenschaft von dir, du wirst uns später zur Rechenschaft ziehen...” (Tagebuch, Das denkende Herz S. 149).

Für Etty Hillesum ist Gott jemand, der sich in all dem Leid als ohnmächtig erweist.

Die Menschen tragen bei ihr die Verantwortung, dass Gott nicht herausgedrängt wird aus der Welt.

Eine andere Position vertritt Zvi Kolitz in einer 1946 geschriebenen Geschichte, in der er die Gedanken eines sterbenden Ghettokämpfers in Warschau beschreibt. Gott ist seiner Meinung nach schuldig geworden, weil er sein Gesicht verborgen hat und die Menschen Opfer ihrer eigenen wilden Triebe hat werden lassen. P. Badd. Hrsg.: Zvi Kolitz. Jossel Rakovers Wendung zu Gott. Villingen 1994, 53