Drucken
Kategorie: 3. Klasse AHS (Ö)
Zugriffe: 2062

Name:

3.1 Auf das Gewissen hören: In diesem Antlitz erkannte ich Gott

Obdachloser Solange ich noch ein Engel gewesen war, blieb alle Not des Menschen mir fremd, ich kannte weder Hunger noch Kälte. Jetzt aber war ich auch nur ein Mensch, mich fror, ich hatte Hunger und wusste nicht, was ich tun solle. Da erblickte ich unweit der Stelle, wo ich niedergefallen war, eine Kapelle. Ich ging hin, trat an das Haus Gottes heran, um dort Schutz zu suchen: Doch war die Kapelle verschlossen, und ich konnte nicht eintreten. So setzte ich mich hinter der Kapelle hin, um wenigstens etwas Schutz vor dem Wind zu haben. Der Abend kam heran, immer mehr peinigten mich Hunger und Kälte, und ich verging beinahe vor Schmerz.

Da hörte ich plötzlich einen Menschen; er kam die Straße entlang, an der die Kapelle steht, trug Stiefel in der Hand und redete mit sich selber. Zum ersten Mal, nachdem ich selber ein Mensch geworden war, erblickte ich ein menschliches Antlitz, mir grauste davor, und ich wendete mich um. Da dieser Mensch aber mit sich selber redete, vernahm ich, dass ihn die Sorge darum quäle, wie er sich vor der Kälte des Winters schützen solle und wie er Frau und Kinder vor dem Hunger bewahren könne.

Da dachte ich: Ich vergehe hier vor Hunger und Kälte, dieser Mensch aber ist von Sorgen um sich und die Seinigen erfüllt. Einen warmen Pelz braucht er, um sich und seine Frau damit zu bedecken, und Brot braucht er auch und denkt nur daran, wie er das alles beschaffen könnte. Er wird mir nicht helfen! Da erblickte mich der Mann, runzelte die Stirn - das machte ihn noch schrecklicher - und ging weiter.

Ich war schon nahe am Verzweifeln, da hörte ich den Mann zurückkommen. Ich blickte auf und erkannte ihn nicht wieder: Standen vorher Tod und Verwesung in seinem Gesicht, so war es jetzt von Leben erfüllt. Und in diesem Antlitz erkannte ich Gott. Der Mann trat auf mich zu, gab mir etwas anzuziehen, nahm mich dann an der Hand und brachte mich in sein Haus.

Dort trat uns ein Weib entgegen und begann auf uns einzureden. Die Frau aber war noch schrecklicher anzusehen, als es ihr Mann gewesen war. Leichengeruch ging von ihrem Munde aus, so dass ich vor diesem Pesthauch kaum atmen konnte. Am liebsten hätte sie mich aus ihrem Hause gejagt, und ich wusste, dass sie sterben müsste, wenn sie es tun würde. Der Mann aber redete ihr ins Gewissen und fragte sie, ob sie denn Gott vergessen habe. Da verwandelte sich die Frau, und als sie uns zu essen gab und mich dabei ansah, da wurde ich dessen gewahr, dass der Tod von ihr gewichen war, und erkannte auch in ihr Gott.                                                                                                    Aus: Leo Tolstoi, Wovon lebt der Mensch

Wie geht es diesem Menschen, der vorher ein Engel war bei der Kapelle?

Welche Sorge hatte der Mann, der Stiefel trug?

Warum erkannte er in diesem Menschen Gott?

Wie schaute die Frau zuerst aus?

Wie handelte der Mann gegenüber seiner Frau?

Wie erkannte der Erzähler in der Frau Gott?