Blue Flower

martinRömische Eltern, die ihren Sohn Martinus nannten, was soviel wie „kleiner Mars“ bedeutet, weihten das Kind dem Kriegsgott des Reiches. Jedenfalls wünschte der Offizier, dem um das Jahr 316 im Militärstützpunkt Sabaria (im heutigen Ungarn), ein Sohn geboren wurde, dass dieser einmal in seine Fußstapfen trete. So veranlasste der Vater seinen Jungen, erst 15jährig, zur Soldatenlaufbahn. Martinus wurde einer Reiterabteilung zugeordnet und schon bald zum Offizier befördert. Im fernen Gallien war sein Dienstort.
Obwohl er noch blutjung war, stand ihm ein Leibbursche zu Diensten. Hier zeigte sich freilich, dass dieser junge Offizier anders dachte, als es Sitte und Brauch war. Martinus hielt sich nicht an die Rollen „Vorgesetzter“ und „Untergebener“, sondern wollte einen brüderlichen Lebensstil, der den Mitmenschen unbegreiflich war: „Der Herr bediente seinen Diener, er zog ihm meist selbst die Schuhe aus und reinigte sie. Sie aßen miteinander, wobei Martinus jedoch des Öfteren aufwartete.“
Wahrscheinlich war der junge Offizier zu dieser Zeit schon mit Christen und christlicher Denkweise bekannt geworden. Ohne bereits Christ zu sein, wollte er nicht mehr so leben, wie alle lebten. Martinus muss viel über diese Dinge nachgedacht haben, anders ist die Begebenheit nicht verständlich, die damals Menschen bewegte und die sie bis heute immer wieder nacherzählt haben:
Einmal begegnet ihm im Winter, der ungewöhnlich rau war, sodass viele der eisigen Kälte erlagen, mantelteilung1 kleinam Stadttor von Amiens ein notdürftig gekleideter Armer. Er flehte die Vorübergehenden um Erbarmen an, aber alle gingen an dem Unglücklichen vorbei.
Martin trug nichts Wertvolles als den Soldatenmantel, seinen übrigen Besitz hatte er schon verschenkt. Er zog also sein Schwert, mit dem er umgürtet war, schnitt den Mantel mitten durch und gab die eine Hälfte dem Armen, die andere legte er sich selbst wieder um.
In der folgenden Nacht erschien ihm Christus mit jenem Mantelstück, mit dem er den Armen bekleidet hatte, im Schlaf. Martin wurde aufgefordert, den Herrn genau zu betrachten und das Gewand, das er verschenkt hatte, wiederzuerkennen. Eingedenk der Worte, die er einst gesprochen: „Was ihr einem der Geringsten getan, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40), erklärte der Herr, dass er im Armen das Gewand bekommen habe.
Sulpicius Severus, der die Lebensgeschichte Martins aufgeschrieben hat, bemerkt dazu, dass manche der Umstehenden gelacht hätten, als Martin seinen Mantel teilte , weil er ihnen im halben Mantel verunstaltet vorgekommen wäre.
Wenige Wochen nach diesem Ereignis, zum Osterfest 334, empfing Martin – 18jährig – das Sakrament der Taufe. Dennoch verblieb er weiterhin Soldat, dachte aber viel darüber nach, ob sich Christsein und Kriegsdienst vereinen ließen. Unterdessen waren fremde Stämme in Gallien eingefallen, und Kaiser Julian zog bei Worms das Heer zusammen. Um die Soldaten für den Kampf zu gewinnen, ließ er jeden vortreten; eigenhändig wollte er ihnen ein besonderes Geschenk überreichen. Martin empfand, dass ihn die Annahme des Geschenks über den Tag hinaus verpflichten würde. So trat er, als er an die Reihe kam, vor den Kaiser und sagte:
Bis heute habe ich dir gedient; gestatte nun, dass ich jetzt Gott diene. Dein Geschenk mag nehmen, wer in die Schlacht ziehen will. Ich bin ein Soldat Christi; es ist mir nicht erlaubt zu kämpfen.“ Der Kaiser antwortete wütend. Martin wolle sich nur aus Angst vor der Schlacht, die für den anderen Tag erwartet war, nicht aber um seines Glaubens willen dem Kriegsdienst entziehen. Doch der Versuch, ihn einzuschüchtern, machten Martin nur noch fester. Er nahm seinen Abschied vom Soldatenstand.
Martin ging zunächst zu Hilarius, dem Bischof von Poitiers; bei ihm blieb er eine Weile. Dann trieb es ihn, seine Eltern wiederzusehen. Auf dem weiten Weg, der durch wilde Alpentäler führte, verlief er sich und fiel Räubern in die Hände. Seine innere Festigkeit verwunderte einen der Strauchdiebe sehr, so dass er Martin besser kennenlernen wollte und dabei von selbst auf den christlichen Weg geriet. Auch seine Mutter ließ sich von Martins Glauben überzeugen, der Vater blieb bei den römischen Traditionen. Wahrscheinlich hat er Martins Abschied vom Soldatenstand und dessen neue Lebensführung entschieden verurteilt. Die Arianer, eine christliche Sondergruppe, vertrieben Martin aus dem heutigen Ungarn.
Es ist anzunehmen, dass sich Martin über seinen weiteren Lebensweg selbst nicht im Klaren war. Darum zog er sich auf eine Insel im Golf von Genua zurück, lebte von Kräuterwurzeln und Früchten, und hoffte, sich selbst und Gottes Willen besser kennen zu lernen. Später ging er zurück nach Poitiers, um in der Nähe von Bischof Hilarius zu sein. Er baute sich außerhalb der Stadt eine Klause. Hier lebte er einsam, mit sich und Gott alleine, und wurde ein weiser und gütiger Mann.
So wundert es nicht, dass bald Ansehen und Einfluss des jungen Einsiedlers weit ins Land gingen. Martin wurde Ratgeber und Helfer vieler Menschen. Viele seiner Taten galten als Wunder, denn wenn ein Mensch ganz aus Gott lebt, kann er Dinge tun, die anderen unmöglich sind. Später schlossen sich junge Männer Martin an. Es kam zur ersten Klostergründung auf gallischem Boden. Martin wurde der Schrittmacher des Mönchtums im Abendland.
Eine neue Wende brachte das Jahr 371. In der Stadt Tours war der Bischof neu zu wählen. Das Volk wünschte Martin, aber die Geistlichkeit lehnte ab. Martin sei unansehnlich und ungepflegt; sein Äußeres mache ihn für die bischöfliche Würde ungeeignet. Auch Martin wollte nicht. Als er hörte, dass man ihn zum Bischof haben wollte, flüchtete er. Aber das Versteck nützte ihm nichts. Die Volksmeinung setzte sich durch, Martin wurde gewählt, und er folgte dem Ruf.
Tatsächlich wurde Martin ein überragend volkstümlicher Bischof mit unbestechlichem Gerechtigkeitssinn. Einmal kauerte er eine ganze Winternacht vor dem Tor einer Burg, um einen Gefangenen freizubitten. Seine Lebensführung blieb einfach und arm. Als er mit 80 Jahren zum Sterben kam, legte er sich im Kreise seiner Mitbrüder auf Asche: „Für einen Christen ziemt es sich nicht anders“, sagte er. Am 11. November 397 wurde er in Tours begraben. Über seinem Grab erbaute man eine Basilika mit einer Abtei. Diese war bis ins späte Mittelalter Wallfahrtsort und fränkisches Nationalheiligtum, bis die Hugenotten sie zerstörten. Martin war der erste Nicht-Märtyrer, der in der Christenheit als Heiliger verehrt wurde. Der Verfasser seiner Lebensgeschichte, Sulpicius Severus, beendet den Bericht: „Ich hoffe, dass er auf uns hernieder schaut, auf mich, der ich das schreibe, und auf dich, der du es liest.“